„Im Jahre 1954 wurde das erste Kernkraftwerk der Welt in der Nähe von Moskau in Betrieb genommen.“
In den folgenden Jahrzehnten wurden weltweit Hunderte von Kernreaktoren gebaut, wobei die Vereinigten Staaten, Frankreich und China den Ausbau anführten und etwa die Hälfte der heutigen Anlagen ausmachen. Etwa 90% der heute in Betrieb befindlichen Kernreaktoren wurden in den 1970er und 1980er Jahren gebaut. Daher beträgt das Durchschnittsalter der heutigen Reaktoren weltweit etwa 32 Jahre. In den USA erhielten ca. 90% der Reaktoren bereits eine Laufzeitverlängerung bis zu 60 Jahre.
Die weltweit installierte Kernkraftwerkskapazität beträgt etwa 420 GW und wird bis 2050 voraussichtlich auf 620 GW ansteigen. Somit sind heute etwa 5 % der insgesamt 8,6 TW installierten Stromkapazität nuklear.¹ Die über 400 Kernreaktoren trugen im Jahr 2022 fast 10% zur weltweiten Stromerzeugung von etwa 29.000 TWh bei (Abbildung 1).
Zur Information, nur etwa 40% der weltweiten Primärenergie von über 170.000 TWh wird zur Stromerzeugung genutzt; die anderen 60% werden für Industrie, Heizung/Wärme und Verkehr aufgewendet
[1] IEA WEO (2023), https://www.iea.org/reports/world-energy-outlook-2023.
Anmerkung: Der Autor schreibt „erneuerbare Energien“, weil sie in Wirklichkeit nicht wirklich „erneuerbar“ sind, wenn man den Lebenszyklus, den Rohstoff- und Energieeinsatz sowie die gesamten Umweltauswirkungen berücksichtigt. So hat beispielsweise die Wasserkraft weitreichende Umweltauswirkungen.
Abbildung 1: Weltweite Stromkapazität, Stromerzeugung und Primärenergie
Quellen: Schernikau based on International Energy Agency (2023), https://www.iea.org/reports/world-energy-outlook-2023; Energy Institute (2023), Statistical Review of World Energy, (https://www.energyinst.org/statistical-review)
Die Kernenergie ist die Energie- und Rohstoff-effizienteste Energiequelle mit einer Energierendite (EROI), die doppelt so hoch oder höher sein kann als die von Kohle, Gas oder Wasserkraft. Die Kernenergie ist auch eine der sichersten Formen der Stromerzeugung, gemessen an den Todesfällen pro erzeugter MWh, und hat die geringsten Umweltauswirkungen.
Umso erstaunlicher ist es, dass Kernkraft nur einen relativ geringen Anteil an der weltweiten Stromerzeugung hat. Noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass der Anteil der Kernenergie kontinuierlich zurückgegangen ist, da deren (fehlender) Ausbau nicht mit dem Wachstum der weltweiten Stromnachfrage Schritt halten konnte. Während der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromerzeugung im Jahr 2002 fast 17% betrug, sank dieser Wert bis 2023 auf 9%. Die absolute nukleare Stromerzeugung blieb mit etwa 2.700 TWh in diesem Zeitraum weitgehend unverändert (Abbildung 2).
Dies könnte sich nach der COP28 in Dubai ändern, da sich 22 Länder verpflichtet haben, die Kernenergie bis 2050 zu verdreifachen. Dies würde bis 2050 etwa 30 GW pro Jahr bedeuten – eine Verfünffachung gegenüber der jährlich Ausbaurate während des letzten Jahrzehnts, aber im Einklang mit den Boomzeiten in den 1980er Jahren. Welchen Unterschied würde ein solcher Ausbau machen und würde das globale Energieproblem gelöst werden?
Die Primärenergie-Nachfrage wird bis 2050 voraussichtlich um 40-50% steigen, was auf einen Bevölkerungszuwachs von etwa 20% und einen Anstieg des Pro-Kopf-Energieverbrauchs von etwa 25% zurückzuführen ist. Die Elektrizitätsnachfrage wird sicherlich schneller steigen, nicht nur wegen des derzeitigen, nicht immer Energie-effizienten Vorstoßes, „alles zu elektrifizieren“. Es ist daher offensichtlich, dass die Kernenergie zu diesem Wachstum beitragen wird. In absoluten Zahlen werden jedoch andere Quellen den Großteil des Kapazitätswachstums ausmachen. Wenn die direkten und indirekten Subventionen fortgesetzt werden², sind das sicher unvorhersehbare und wetterabhängige Wind- und Solar-“Kraftwerke“, aber auch flexible, regelbar Kohle- und Gaskraftwerke.
[2] Im weltweiten Durchschnitt sind die Subventionen für Wind- und Solarenergie pro MWh weit höher als die Subventionen für Kohle, Gas oder Kernkraft.— https://robertbryce.substack.com/p/actually-solar-is-getting-302-times?publication_id=630873&utm_campaign=email-post-title&r=79kdr; www.unpopular-truth.com
Abbildung 2: Weltweite Erzeugung von Kernenergie
Quelle: IEA Electricity 2024 (https://www.iea.org/reports/electricity-2024)
Treibstoff und Technologie
Uran ist weltweit in Granitgestein und in den Ozeanen gelöst reichlich vorhanden, aber nicht alles davon ist für die Energieerzeugung nutzbar. Theoretisch ist die Menge ausreichend, um den gesamten Energiebedarf der Menschheit zu decken. Es gibt jedoch Bedenken hinsichtlich des Zugangs zu einer ausreichenden Menge an Uran, angereichertem Uran und Brennelementen.³ Über 50% der kommerziell nutzbaren Uranressourcen befinden sich in Australien, Kasachstan und Kanada⁴; Kasachstan fördert über 40% des weltweiten Urans. Die Vereinigten Staaten sind heute vollständig von Uranimporten abhängig, und selbst Russland verbraucht doppelt so viel wie es produziert.
Eine ernsthafte Besorgnis über die Brennstoffverfügbarkeit könnte interessante technologische Fortschritte wie Reaktoren der vierten Generation oder kleine Kernreaktoren in den Schatten stellen oder die Finanzierung von Thoriumreaktoren weiter fördern. Das weltweit erste Hochtemperatur-Gasreaktor-Kernkraftwerk der vierten Generation, das einen Kugelhaufenreaktor enthält und von der China National Nuclear Corporation betrieben wird, nahm Ende 2021 den Betrieb auf.⁵ Kernenergie auf Thoriumbasis verspricht verschiedene Vorteile, darunter eine bessere Brennstoffverfügbarkeit, höhere Wirkungsgrade, weniger Abfall und ein geringeres Waffennutzungspotenzial.
Kleine modulare Kernreaktoren (Small Modular Nuclear Reactors, SMRs) sind eine interessante Entwicklung, da sie einen kosteneffizienteren, standardisierten und großvolumigen Bau von Minireaktoren ermöglichen könnten. Kleine modulare Kernreaktoren, die selten wirklich „klein“ sind, haben in der Regel weniger als 300 MW installierte Leistung und können bis zu 5 MW „klein“ sein; sie können thermische und/oder elektrische Energie erzeugen. Derzeit befinden sich wahrscheinlich etwa 70 SMR-Projekte weltweit in der Entwicklung. SMR könnten flexibler eingesetzt werden und sogar schneller hoch- und herunter gefahren werden.
[3] Nuclear News Wire (2023), on the verge of a crisis, https://www.ans.org/news/article-4909/on-the-verge-of-a-crisis-the-us-nuclear-fuel-gordian-knot/.
[4] World Nuclear Association.
[5] Global Times (2021), https://www.globaltimes.cn/page/202112/1242878.shtml
Kosten
Die derzeitigen Kosten für Kernkraftwerke variieren ebenso stark wie die Zeit, die für den Bau eines solchen Kraftwerks benötigt wird. 2-13 Mio. US$ pro MW und 4-25 Jahre sind die weithin bekannten Spannen. Während 40% der Kernkraftwerke innerhalb von sechs Jahren gebaut wurden, meist in China, werden die kostengünstigsten Anlagen in China, Indien und Südkorea gebaut. Die teuersten stehen oder werden demnächst in den Vereinigten Staaten und in UK stehen. Die hohen Kosten und Bauverzögerungen im Westen sind in erster Linie auf Vorschriften zurückzuführen, die nach Ansicht des Autors weder wirtschaftlich noch wissenschaftlich zu rechtfertigen sind. Es ist zu hoffen, dass die jüngste Zunahme der Unterstützung für die Kernenergie dies ändern wird, wie es auf der COP28 deutlich geworden war.
Unter Betrachtung der Systemvollkosten (full cost of electricity, FCOE, oder levelized full system cost of electricity, LFSCOE) ist die Kernenergie wahrscheinlich die teuerste aller konventionellen oder disponiblen Arten der Stromerzeugung (Abbildung 3).
Dennoch ist sie, unter Gesamtkostenbetrachtung, immer noch deutlich günstiger als Wind- und Solarenergie und verursacht keine nennenswerten Emissionen. Allerdings sind die Stromgestehungskosten (LCOE), ein Maß für die Grenzkosten, für Wind- und Solarenergie sehr niedrig und werden fälschlicherweise meistens in der Presse verwendet.
Anmerkung: Der Autor unterstützt das Idel’sche Prinzip der Systemvollkosten und dessen Auswirkungen auf die Kosten von Wind- und Solarenergie im Vergleich zu einsatzfähigem Strom aus Kernkraft, Kohle oder Gas⁶, USC = Ultra super critical, LCOE = Levelized Cost of Electricity, LFSCOE = Levelized Full System Cost of Electricity
[6] Der Autor unterstützt die Idel-Zahlen für 2022 für Kohle und Gas nicht, da Kohle im Durchschnitt niedrigere Kosten hat als Gas. So hat BloombergNEF kürzlich bestätigt, dass Kohle kostengünstiger ist als Gas, aber die tatsächlichen Kosten sind je nach Land unterschiedlich, BloombergNEF (2023), https://about.bnef.com/blog/cost-of-clean-energy-technologies-drop-as-expensive-debt-offset-by-cooling-commodity-prices/.
Abbildung 3: Gesamtsystemkosten der Kernenergie im Vergleich zu Alternativen
Quellen: Autor basierend auf Bank of America, https://advisoranalyst.com/wp-content/uploads/2023/05/bofa-the-ric-report-the-nuclear-necessity-20230509.pdf, based on Idel (2022), https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360544222018035
Die Behauptung, erneuerbare Energie aus Wind und Sonne sei billig und habe keine Auswirkungen auf die Umwelt, ist ein entscheidendes und schädliches energieökonomisches Missverständnis. Die LCOE sind nicht geeignet, um wetterabhängige Energiequellen mit regelbaren zu vergleichen.⁷ Die LCOE sind eine mikroökonomische und keine Gesamtsystembetrachtung, schließen sieben Kostenkategorien (siehe unten) aus und werden daher niemals ein zuverlässiger Indikator sein, auf den Regierungen ihre energiepolitischen Entscheidungen stützen können. LCOE berücksichtigt keine Wetterabhängigkeit, Backup/Speicherung, Unterbrechungen, niedrige natürliche Nutzungsgrade, die korrelierende, kontinent-weite Verfügbarkeit von Wind- und Sonnenenergie und die standortbedingte Ungleichheit von Angebot und Nachfrage.
Zu den offensichtlichen Kosten, die in den LCOE nicht berücksichtigt werden, gehören Folgende:
- Reserve- oder Langzeit-Energiespeicherung – Wind- und Solarenergie erfordern mindestens 100% Reserve oder Speicherung für jedes installierte MW. Dies ist auf die Energieverluste in Backup- und Speichersystemen sowie auf die Tatsache zurückzuführen, dass in der Regel mehr als ein Backup-/Speichersystem erforderlich ist, z. B. für die Kurz- und Langzeitspeicherung von Energie.
2. Netzintegration: Dies umfasst die Kosten für Übertragung, Verteilung, Ausgleich und Konditionierung.
Zu den nicht so offensichtlichen Kosten, die bei den LCOE im Netzmaßstab nicht berücksichtigt werden, gehören Folgende:
3. Effizienzverluste – mehr Wind- und Solarenergie bedeutet weniger Auslastung von Backup- oder spezifischen Gesamtnetzsystemen.
4. Raumkosten⁸ oder Platzbedarf – diese werden durch die geringe Energiedichte (pro m²) von Wind- und Solaranlagen verursacht. Die Nutzung von Tausenden von km², um die diffuse Energie von Sonne und Wind einzufangen, ist mit wirtschaftlichen und ökologischen Kosten verbunden.
5. Entsorgungs-/Recyclingkosten – diese werden durch die geringe Energiedichte (pro kg) und die kurze Lebensdauer von Wind- und Solarenergie verursacht.
6. Umweltkosten während des Betriebs: Dazu gehören die Schädigung der Pflanzen- und Tierwelt und die negativen Auswirkungen der Energieerzeugung auf das Klimasystem, einschließlich der Erwärmung, der Windentnahme und der atmosphärischen Veränderungen.
7. Rohstoff- und Nettoenergieineffizienz entlang der gesamten Wertschöpfungskette – dazu gehören die Produktion, die Verarbeitung, der Transport, die Veredelung, die Herstellung und die Entsorgung/Recycling sowie, die von der reinen Stromerzeugung unabhängigen, Umweltauswirkungen.
Berücksichtigt man die oben genannten Aspekte Netzintegration, Backup/Speicherung, Betriebsdauer, Energiedichte und (natürlich) Unterbrechungen, dann sind Wind- und Solarenergie in der Tat mit Abstand am teuersten. In Wirklichkeit steigen die Gesamtsystemkosten von Wind- und Solarenergie exponentiell mit einem höheren Durchdringungsgrad des Systems, was indirekt von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dem Internationalen Energiewirtschaftsinstitut (IEEJ), der Internationalen Energieagentur (IEA) und anderen energiewirtschaftlichen Institutionen bestätigt wurde.⁸
[7] Schernikau (2024), https://www.eurasiareview.com/17012024-the-energy-trilemma-and-the-cost-of-electricity-oped/.
[8] Schernikau et al. (2022), https://dx.doi.org/10.2139/ssrn.4000800.
Schlussfolgerung
Der Vorstoß der COP28, die Kernenergie weltweit voranzutreiben und zu unterstützen, scheint richtig zu sein. Es gibt noch viel Potenzial für eine weitaus stärkere Verbreitung der Kernenergie weltweit. Eine zugesagte Verdreifachung des generierten Stroms aus Kernkraft (in 2022 waren es 2.700 TWh oder 9% von etwa 29.000 TWh weltweit) würde bis 2050 etwa 8.000 TWh an Kernkraft bedeuten. Wenn die Elektrifizierung weitergeht, schätzt die Internationale Energieagentur IEA in ihrem World Energy Outlook 2023 die weltweite Stromerzeugung auf 50.000 TWh bis 2050. Damit würde der Anteil der Kernenergie auf knapp über 15% steigen, was immer noch unter dem Anteil von 17 % im Jahr 2002 liegt.
Aus makroökonomischer Sicht gibt es also kein realistisches Szenario, in dem die Kernenergie ausreicht, um die wachsende Energienachfrage bis 2050 zu befriedigen, und zwar aus folgenden Gründen: (1) beansprüchte Zeit, (2) Kosten und Regulierung und (3) das schiere Volumen des wachsenden Energiebedarfs. Die ernüchternde und unbequeme Wahrheit ist, dass selbst wenn die COP28-Ziele für die Kernenergie erreicht werden, was zwar notwendig, aber immer noch schwierig ist, wird Kernkraft nur ein Bruchteil des Wachstums der Energienachfrage bis 2050 decken können. Somit benötigen wir Öl, Kohle, Gas, Wasserkraft, sonstige „regelbare Energien“ und alle anderen zuverlässigen, energiedichten Formen der Energieversorgung, um den Rest zu decken.